Juni 2022
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Liedempfehlung im Juni:

Es ging ein wacker Mädchen

Im „Deutschen Liederhort“ von 1856 trägt das Lied die Überschrift „Wär ich ein Knab geboren“. Als musikalische Stellungnahme gegen das patriarchalische Frauenbild wurde es in den 1970ern populär im deutsch-deutschen Volkslied-Revival. Gudrun Walther von Deitsch zählt es zu ihren Lieblingsliedern. Kennengelernt hat sie es von Hilde Pierard, einer befreundeten Musiker-Kollegin aus Belgien, die seit längerem in Deutschland lebt. Vom Volksliedarchiv erfuhr sie, dass die ungewöhnliche und schöne Melodie traditionell ist und aus Oberschlesien stammt. 
(Autor: Wolfgang Leyn) 

Gudrun Walther und Jürgen Treyz (Deitsch) © Eva Giovannini

Ich hege, wenn ich das Lied singe, große Sympathien für die Protagonistin, die sich im Spannungsfeld zwischen der Romanze mit dem jungen Reiter, der schützenden und mahnenden Mutter sowie dem trunk- und spielsüchtigen Vater befindet. Da kann man gut mitfühlen, die Themen sind heute so relevant wie damals. 
Und dann kommt die Zeile „Wär ich als Mann geboren, so zög‘ ich in die Welt“ – die macht einem dann ganz klar, was Frauen damals alles verwehrt war und wie weit wir bereits gekommen sind, und wie wichtig dieser Prozess ist. Ich verstehe es also auch als ein feministisches Lied – die junge Frau setzt zwar vermutlich ihre Wünsche nicht in die Tat um, aber sie äußert sie und tut somit den ersten Schritt. 

Gudrun Walther 

Es ging ein wacker Mädchen
wohl alle Tag ins Gras.
|: Es folgt‘ ein junger Reiter
ihr alle Tage nach. :l

Der Reiter breit‘ sein Mantel
wohl in das grüne Gras.
|: Er bat das junge Mädchen,
dass sie zu ihm saß. :l

„Ach Mutter, liebe Mutter,
gebt Ihr mir einen Rat!
|: Es folgt mir alle Morgen
ein junger Reiter nach.“ :l

„Ach Tochter, liebe Tochter,
den Rat, den geb ich dir:
|: Lass du den Reiter fahren,
Bleib noch ein Jahr bei mir!“ :l

„Ach Mutter, liebe Mutter,
der Rat, der ist nicht gut.
|: Der Reiter ist mir lieber
als all dein Hab und Gut.“ :l

„Ist dir der Reiter lieber
als all mein Gut und Hab,
|: so pack dir deine Kleider
Und lauf dem Reiter nach!“ :l

„Ach Mutter, liebe Mutter,
der Kleider sind’s nicht viel.
|: Der Vater hat sie verrauschet
bei Wein und Kartenspiel.“ :l

„Hat sie mein Vater verrauschet
bei Wein und Kartenspiel,
|: so soll sich Gott erbarmen,
dass ich ein Mägdlein bin.“ :l

„Wär ich als Knab‘ geboren,
so zög‘ ich in die Welt,
|: würd‘ mir ein Handwerk lernen,
verdienen eignes Geld.“ :l

Es ging ein wacker Mädchen
wohl alle Tag‘ ins Gras.
|: Es folgt‘ ein junger Reiter
ihr alle Tage nach. :l

LIEDGESCHICHTE

Heranwachsende junge Mädchen fragen ihre Mütter um Rat – und nehmen ihn dann aber nicht an. Das kommt nicht nur im wahren Leben vor, es ist auch ein beliebtes Volkslied-Motiv. Meist geht es dabei um die Partnerwahl. Soll sie sich für den jungen Mann entscheiden, den Reiter, den Jäger, den Fähnrich, der um sie wirbt? 

„Es ging ein wacker Mädchen“ – das Lied mit dem Zwiegespräch von Tochter und Mutter, bekannt auch als „Graslied“, war in verschiedenen deutschen Landschaften verbreitet, so im Rheinland, in Baden, Hessen, Sachsen-Meiningen und Brandenburg und wurde bis ins 20. Jahrhundert mündlich überliefert. 1856 nahm es Ludwig Erk in seinen „Deutschen Liederhort“ auf, unter dem Titel „Wär ich ein Knab geboren“, mündlich aufgezeichnet in der Gegend um Frankfurt am Main und Darmstadt. 

Interessant für das deutsche Volkslied-Revival der 1970er Jahre wurde das Lied wegen seiner Ablehnung des patriarchalischen Frauenbildes – Kinder, Küche, Kirche. Die 1971 in Heidelberg gegründete Band Elster Silberflug spielte es 1974 auf Schallplatte ein, 1976 taten es Tom Kannmacher & Jürgen Schöntges. Tom, einer der Mitbegründer der bundesdeutschen Folkszene, erinnert sich: 

„Ich hatte das Lied 1972 von Elster Silberflug gelernt und dann mit Jürgen ins Programm genommen. Das Lied erschien uns inhaltlich als typischer Gegenentwurf zu dem spießigen Volksliedstoff in Schule und Radio. Und die Melodie hatte eine quasi keltische Molllinie, die vom Schlagerkitsch wegführte.“ 

Liederheft von Brummtopf und Saitensprung

Schallplatten aus der Bundesrepublik gab es in der DDR nicht zu kaufen, dennoch gelangten sie über verschiedene Wege meist zu den Interessenten. Ich habe das Lied über das „wacker Mädchen“ zum ersten Mal von der 1975 gegründeten Erfurter Band Brummtopf gehört. Die Möglichkeit, eine LP einzuspielen, hatte die Gruppe damals nicht. Stattdessen nahm sie es als Nr. 1 in das Liederheft auf, das sie 1984 gemeinsam mit Saitensprung herausgab. 

Es spricht für das Lied – und für die nachgewachsene Deutschfolk-Generation – dass es immer noch oder wieder gesungen wird. Seit 2005 zum Beispiel von Deitsch, dem Duo Gudrun Walther und Jürgen Treyz, aus Lenningen in Baden-Württemberg, ebenso wie von Rumpelstolzaus Rand-Berlin.

Hörbeispiele
Elster Silberflug, 1974/76 („Ich fahr dahin“, Hansa) 
Tom Kannmacher und Jürgen Schöntges, 1977 („Wer jetzig Zeiten leben will“, pläne) 
Deitsch, 2005 („Königskinder“, Artes Records) 
Karl M. Riedel, Admont/Steiermark (Österreich) mit Drehleier, 2020 
Angelika Scheel, Wolfgang Mahrle (live beim AltenHeimSpiel, Malzhaus Plauen, 2021) 

Spezial:
https://sead86167ad6280cc.jimcontent.com/download/version/1552325632/module/6715040313/name/Taenze%202014.pdf
Tanzanleitung zum „Wacker Mädchen“ von der 6. Osdorfer Tanzwerkstatt für neue deutsche Tänze (2014)