Liedempfehlung im Dezember:
O Tannenbaum
Manche und mancher mag sich jetzt fragen, warum ich diesmal so ein „abgelatschtes“ Lied empfehle? Dafür gibt es zwei gute Gründe: Zum einen hat es eine hochinteressante Entstehungs- und Verbreitungsgeschichte. Zum anderen gibt es Textfassungen in vielen Sprachen. „O Tannenbaum“ eignet sich also hervorragend zum gemeinsamen Singen mit ausländischen Freunden.
(Autor: Wolfgang Leyn)
„O Tannenbaum“ war ursprünglich überhaupt kein Weihnachtslied. Und seine Melodie dient auch heute gänzlich unweihnachtlichen Zwecken: Sie erklingt auf Parteitagen der britischen Labour Party, bei Fußballspielen des FC Chelsea, als Hymne mehrerer US-Bundesstaaten. Weil sie so populär ist, wird sie auch gern für Parodien genutzt. Von Kindergartenkindern wie Umweltbewegten, bayerischen Comedians, kanadischen Datenschützern oder trinkfreudigen Schweden. Erfahren habe ich das vor über zehn Jahren beim Rudolstadt-Festival in Dieter Beckerts unterhaltsam bildendem „Songposium“. Zur aktuellen Lied-Empfehlung schickte mir der brachialromantische Liedermacher, gelernte Holzfäller und studierte Förster diese Zeilen:
„Die Tanne liegt im deutschen Volksmund herum und treibt dort so einige phantasievolle Blütenträume, Fichte und Kiefer, die Brot- und Butterbäume der Forstwirtschaft tun es eher nicht. Wo der Herr Zarnack die Melodie her kannte, bleibt sein Geheimnis, sein Lied über das falsche, treulose Mägdelein war der Wutausbruch eines Enttäuschten. Es gibt ja immer mal wütige Lieder. Das hat der Kantor aus Leipzig aber wieder heile gemacht und aus treuen Blättern wurden grüne Blätter. Nadeln, hätte er auch noch korrigieren können. Aber was kann man alles für einen Unsinn singen, wenn sich‘s reimt und schön klingt.“
Reimen tut sich’s und schön klingt es auch, das Lied, das der Lehrer August Zarnack 1819 zur Melodie eines Handwerksgesellenlieds dichtete und das der Kantor Ernst Anschütz 1824 in ein Weihnachtslied verwandelte. Heute dürfte „O Tannenbaum“ dasjenige deutsche Volkslied sein, das am weitesten in der Welt verbreitet ist.
Sowohl die verschiedenen Parodiefassungen als auch die musikalischen Bearbeitungen, von klassisch bis jazzig, vom Kinderlied bis zum Tanzparty-Stück, von anrührend bis schräg, solistisch bis orchestral, zeigen die ungeheure Wandlungsfähigkeit dieses deutschen Volksliedes. Wenn der eine oder die andere zu einer eigenen Version angeregt würde, wäre das eine Freude für mich. Ihnen und Euch wünsche ich viel Spaß beim Stöbern in den Hörbeispielen. Die nervigen Werbeeinblendungen lassen sich ja stummschalten.
LIEDGESCHICHTE
„O Tannenbaum“ ist das wohl bekannteste deutsche Weihnachtslied ohne religiösen Bezug. Erstmals veröffentlicht wurde es 1824 in einem Schulliederbuch als Umdichtung eines 1819 entstandenen Liebeslieds. Das hatte August Zarnack (1777–1827), Lehrer und Direktor des Potsdamer Waisenhauses, auf die Melodie von „Es lebe hoch, es lebe hoch, der Zimmermannsgeselle“ aus dem seinerzeit verbreiteten, seit 1799 mehrfach aufgelegten „Mildheimischen Liederbuch“ geschrieben. Darin wird der Tannenbaum als Sinnbild der Treue beschworen, im Gegensatz zur Untreue des in der zweiten Strophe angesprochenen „Mägdeleins“.
Liebeslied wird Weihnachtslied
Der Leipziger Lehrer und Kantor Ernst Anschütz (1780–1861) formte es 1824 zum Weihnachtslied um. Wohl zu ersten Mal wird darin der Tannenbaum mit dem Fest in Verbindung gebracht. Kein Zufall, denn gerade zu dieser Zeit hielt der geschmückte Baum Einzug in die bürgerlichen Wohnstuben. Erst im 20. Jahrhundert wurden die „treuen Blätter“ im Lied zu „grünen Blättern“. Bis dahin fand sich auch das Liebeslied häufiger in den Liederbüchern als das Weihnachtslied.
Freiheitsbaum und Branntewein
Schon früh tauchten erste Parodiefassungen auf. Der Vormärz-Dichter Ernst Ortlepp dichtete 1843 sein „O Eichenbaum“ mit ironischen Anspielungen auf die politische Lage in Deutschland. Adolf Glaßbrenner schrieb nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 auf dieselbe Melodie das Gedicht „O Freiheitsbaum“. Darin spricht er davon, dass dieser deutsche Baum immer wieder junge Triebe hervorbringe, auch wenn er von Fortschrittsfeinden mit „scharfem Beil“ attackiert werde. Zur Tannenbaum-Weise wurden studentische Trinklieder gesungen wie „Des Morgens schmeckt der Branntewein“ oder „Gott grüß dich, Bruder Straubinger“, aber auch das nur aus einer einzigen, ständig wiederholten Strophe bestehende Scherzlied „Das neue Lied, das neue Lied von dem versoffnen Fahnenschmied. Und wer das Lied nicht weiter kann, der fang es wieder von vorne an.“
O Hindenburg, Oh Omikron
Im 20. Jahrhundert entstanden zahlreiche Liedparodien, etwa 1916 das hurrapatriotische Kriegslied „O Hindenburg! O Hindenburg! Wie schön sind deine Siege!“ und 1918, nach er Abdankung von Kaiser Wilhelm II. das Spottlied „O Tannenbaum, o Tannenbaum, der Kaiser hat in Sack gehaun“. In den 1980er Jahren wurden bei bundesdeutschen Umwelt-Demos diese Zeilen gesungen: „O Tannenbaum, o Tannenbaum, wo sind bloß deine Blätter? Du grünst nicht mehr zur Sommerszeit, auch nicht im Winter, wenn es schneit“. Von Kindern an Kinder weitergegeben wurde (und wird vielleicht immer noch) die Version „O Tannenbaum, der Opa sitzt im Kofferraum“. Eine Parodie von 2021 lautet „Oh Omikron, oh Omikron, du bist des Deltas böser Sohn“. Das Volkslied lebt also.
Vielsprachiges Weihnachtslied
Das deutsche Weihnachtslied wurde in viele Sprachen übersetzt. 1856 ins Französische, wenig später ins Estnische und Lettische, vermutlich um 1900 ins Finnische. Auf Englisch gibt es mehrere Versionen mit bis zu sieben Strophen. In die USA brachten es im 19. Jahrhundert deutsche Auswanderer mit. L’albero di Natale, die italienische Version aus den 1970er Jahren, weicht stark vom deutschen Originaltext ab, dort wird ein geschmückter Weihnachtsbaum besungen. In vielen Ländern der Erde wird in der Weihnachtszeit der Tannenbaum besungen, selbst als Calypso oder in Bollywood-Manier. Die vielleicht exotischste Version kommt aus Japan: もみの木 (phonetisch: Momi no ki).
Staatshymne, Arbeiterlied, Fangesang
Wie im Ursprungsland von „O Tannenbaum“ entstanden vor allem im englischsprachigen Raum vielfältige Adaptionen. Das Gedicht „Maryland, My Maryland“, verfasst 1861 während des amerikanischen Bürgerkriegs, erschien kurz darauf in einer Vertonung des deutschstämmigen Charles W. A. Ellerbrock als klavierbegleitetes Lied. Von 1939 bis 2021 war es der offizielle „State Song“ des US-Bundesstaates Maryland, „Florida, My Florida“ hatte 1913-1935 dieselbe Funktion. Ebenfalls aus der Bürgerkriegszeit stammen die Worte der Hymne des US-Bundesstaats Iowa. In London schrieb 1889 Jim Connell das Arbeiterlied „The Red Flag“, das im 20. Jahrhundert mit der Tannenbaum-Melodie zu einer der bekanntesten Hymnen der internationalen Arbeiterbewegung wurde. Es erklingt bei den Parteitagen der britischen wie der irischen Labour Party. Die Fans des FC Chelsea besingen zur selben Melodie die blaue Flagge ihres Vereins. Schwedische Kinder loben damit den Chauffeur ihres Schulbusses, außerdem gibt es auch eine Trinklied-Version. Was würden wohl Herr Zarnack und Herr Anschütz dazu sagen?
Klangbeispiele
Andere Lieder zur Melodie von „O Tannenbaum“ The Red Flag, The James Connolly Songs of Freedom Band (2014)
https://www.youtube.com/watch?v=hX0nK4bbHs0
The Red Flag, Hymne der britischen Labour Party (2020)
https://www.youtube.com/watch?v=sHoyoKgRq5U
We’ll keep The Blue Flag Flying High, Fan-Hymne des FC Chelsea, Boys From The Shed (2013)
https://www.youtube.com/watch?v=Uv3yfQ7SmQs
Maryland, My Maryland, Maryland, My Maryland, Tennessee Ernie Ford (2021) https://www.youtube.com/watch?v=BDiD2LNZ-ls
Hymne von Iowa, Rick Pickren (2009) https://www.youtube.com/watch?v=dKt5MgXFlwg
Nu tar vi den – schwedisches Trinklied für Weihnachten, Mittsommer & Krebsparty (2016) https://www.youtube.com/watch?v=nz8AhFvSYtw
En busschaufför – von schwedischen Kindern während der Busfahrt gesungen (2016)
https://www.youtube.com/watch?v=JKxC4cPOdJI
ParodienOh Tannenbaum, die Oma sitzt im Kofferraum mit Johannes, Werner und Lukas Rohrer, Kainbach bei Graz (2020)
https://www.youtube.com/watch?v=1Fvyk8VCGB4
Oh Oh Tannenbaum, Deine Freunde (2020)
https://www.youtube.com/watch?v=E1sEQX3qxrY
„Oh Tannenbaum“ by Psychostick (USA) als Rammstein-Parodie (2015)
https://www.youtube.com/watch?v=bMfjzzuSg9o
O Tannenbaum, o Chanukah mit Berlins jüdischer Drag Queen Mazy Mazeltov (2016)
https://www.youtube.com/watch?v=Hue_9j0EnSk
O Phishing Tree!, Kanada (2021)
https://www.youtube.com/watch?v=ejro6r3lFX0
Coronabaum – UkeOli & Edith, Lochau, Vorarlberg (2020)
https://www.youtube.com/watch?v=TrZosnVcydM
Oh Omikron, oh Omikron, du bist des Deltas böser Sohn (2021)
https://www.youtube.com/watch?v=NeVUIZVkcRY
Oh light Lockdown – Corona-Weihnachtslied, (2021)
https://www.youtube.com/watch?v=4AEp9JKJj5E
Oh Wannenschaum, Studiotechniker Nullinger mit Ois Easy, Bayern (2016)
https://www.youtube.com/watch?v=3PHawA_j2Zc
Oh Dönerspieß, oh Dönerspieß, Mubu (2019)
https://www.youtube.com/watch?v=WC2m_FikR-g