Die Singstimme ist das Instrument, das wir alle immer dabeihaben. Hier stellen wir jeden Monat ein neues altes Lied vor, mit Text- und Notenblatt und allerlei Wissenswertem rundherum.
Viel Freude beim Stöbern und Nachsingen!
Aktuelle Empfehlung — Lied des Monats:
Lied-Empfehlung: O Tannenbaum | 13.12.22
Songposium beim Rudolstadt-Festival 2011, vorn rechts der "Songposiarch" Dieter Beckert
Manche und mancher mag sich jetzt fragen, warum ich diesmal so ein âabgelatschtesâ Lied empfehle? DafĂŒr gibt es zwei gute GrĂŒnde: Zum einen hat es eine hochinteressante Entstehungs- und Verbreitungsgeschichte. Zum anderen gibt es Textfassungen in vielen Sprachen. "O Tannenbaum" eignet sich also hervorragend zum gemeinsamen Singen mit auslĂ€ndischen Freunden.
(Autor: Wolfgang Leyn)
âO Tannenbaumâ war ursprĂŒnglich ĂŒberhaupt kein Weihnachtslied. Und seine Melodie dient auch heute gĂ€nzlich unweihnachtlichen Zwecken: Sie erklingt auf Parteitagen der britischen Labour Party, bei FuĂballspielen des FC Chelsea, als Hymne mehrerer US-Bundesstaaten. Weil sie so populĂ€r ist, wird sie auch gern fĂŒr Parodien genutzt. Von Kindergartenkindern wie Umweltbewegten, bayerischen Comedians, kanadischen DatenschĂŒtzern oder trinkfreudigen Schweden. Erfahren habe ich das vor ĂŒber zehn Jahren beim Rudolstadt-Festival in Dieter Beckerts unterhaltsam bildendem âSongposiumâ. Zur aktuellen Lied-Empfehlung schickte mir der brachialromantische Liedermacher, gelernte HolzfĂ€ller und studierte Förster diese Zeilen:
"Die Tanne liegt im deutschen Volksmund herum und treibt dort so einige phantasievolle BlĂŒtentrĂ€ume, Fichte und Kiefer, die Brot- und ButterbĂ€ume der Forstwirtschaft tun es eher nicht. Wo der Herr Zarnack die Melodie her kannte, bleibt sein Geheimnis, sein Lied ĂŒber das falsche, treulose MĂ€gdelein war der Wutausbruch eines EnttĂ€uschten. Es gibt ja immer mal wĂŒtige Lieder. Das hat der Kantor aus Leipzig aber wieder heile gemacht und aus treuen BlĂ€ttern wurden grĂŒne BlĂ€tter. Nadeln, hĂ€tte er auch noch korrigieren können. Aber was kann man alles fĂŒr einen Unsinn singen, wenn sichâs reimt und schön klingt."
Dieter Beckert, hier beim AltenHeimSpiel 2021 in Plauen
Reimen tut sichâs und schön klingt es auch, das Lied, das der Lehrer August Zarnack 1819 zur Melodie eines Handwerksgesellenlieds dichtete und das der Kantor Ernst AnschĂŒtz 1824 in ein Weihnachtslied verwandelte. Heute dĂŒrfte âO Tannenbaumâ dasjenige deutsche Volkslied sein, das am weitesten in der Welt verbreitet ist.
NOTEN UND TEXT
Sowohl die verschiedenen Parodiefassungen als auch die musikalischen Bearbeitungen, von klassisch bis jazzig, vom Kinderlied bis zum Tanzparty-StĂŒck, von anrĂŒhrend bis schrĂ€g, solistisch bis orchestral, zeigen die ungeheure WandlungsfĂ€higkeit dieses deutschen Volksliedes. Wenn der eine oder die andere zu einer eigenen Version angeregt wĂŒrde, wĂ€re das eine Freude fĂŒr mich. Ihnen und Euch wĂŒnsche ich viel SpaĂ beim Stöbern in den Hörbeispielen. Die nervigen Werbeeinblendungen lassen sich ja stummschalten.
LIEDGESCHICHTE
"O Tannenbaum" ist das wohl bekannteste deutsche Weihnachtslied ohne religiösen Bezug. Erstmals veröffentlicht wurde es 1824 in einem Schulliederbuch als Umdichtung eines 1819 entstandenen Liebeslieds. Das hatte August Zarnack (1777â1827), Lehrer und Direktor des Potsdamer Waisenhauses, auf die Melodie von "Es lebe hoch, es lebe hoch, der Zimmermannsgeselle" aus dem seinerzeit verbreiteten, seit 1799 mehrfach aufgelegten "Mildheimischen Liederbuch" geschrieben. Darin wird der Tannenbaum als Sinnbild der Treue beschworen, im Gegensatz zur Untreue des in der zweiten Strophe angesprochenen "MĂ€gdeleins".
Liebeslied wird Weihnachtslied
Notenblatt von 1824
Der Leipziger Lehrer und Kantor Ernst AnschĂŒtz (1780â1861) formte es 1824 zum Weihnachtslied um. Wohl zu ersten Mal wird darin der Tannenbaum mit dem Fest in Verbindung gebracht. Kein Zufall, denn gerade zu dieser Zeit hielt der geschmĂŒckte Baum Einzug in die bĂŒrgerlichen Wohnstuben. Erst im 20. Jahrhundert wurden die âtreuen BlĂ€tterâ im Lied zu âgrĂŒnen BlĂ€tternâ. Bis dahin fand sich auch das Liebeslied hĂ€ufiger in den LiederbĂŒchern als das Weihnachtslied.
Freiheitsbaum und Branntewein
Schon frĂŒh tauchten erste Parodiefassungen auf. Der VormĂ€rz-Dichter Ernst Ortlepp dichtete 1843 sein âO Eichenbaumâ mit ironischen Anspielungen auf die politische Lage in Deutschland. Adolf GlaĂbrenner schrieb nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 auf dieselbe Melodie das Gedicht âO Freiheitsbaumâ. Darin spricht er davon, dass dieser deutsche Baum immer wieder junge Triebe hervorbringe, auch wenn er von Fortschrittsfeinden mit âscharfem Beilâ attackiert werde. Zur Tannenbaum-Weise wurden studentische Trinklieder gesungen wie âDes Morgens schmeckt der Brannteweinâ oder âGott grĂŒĂ dich, Bruder Straubingerâ, aber auch das nur aus einer einzigen, stĂ€ndig wiederholten Strophe bestehende Scherzlied âDas neue Lied, das neue Lied von dem versoffnen Fahnenschmied. Und wer das Lied nicht weiter kann, der fang es wieder von vorne an.â
O Hindenburg, Oh Omikron
Im 20. Jahrhundert entstanden zahlreiche Liedparodien, etwa 1916 das hurrapatriotische Kriegslied âO Hindenburg! O Hindenburg! Wie schön sind deine Siege!â und 1918, nach er Abdankung von Kaiser Wilhelm II. das Spottlied âO Tannenbaum, o Tannenbaum, der Kaiser hat in Sack gehaunâ. In den 1980er Jahren wurden bei bundesdeutschen Umwelt-Demos diese Zeilen gesungen: âO Tannenbaum, o Tannenbaum, wo sind bloĂ deine BlĂ€tter? Du grĂŒnst nicht mehr zur Sommerszeit, auch nicht im Winter, wenn es schneitâ. Von Kindern an Kinder weitergegeben wurde (und wird vielleicht immer noch) die Version âO Tannenbaum, der Opa sitzt im Kofferraumâ. Eine Parodie von 2021 lautet âOh Omikron, oh Omikron, du bist des Deltas böser Sohnâ. Das Volkslied lebt also.
Vielsprachiges Weihnachtslied
Das deutsche Weihnachtslied wurde in viele Sprachen ĂŒbersetzt. 1856 ins Französische, wenig spĂ€ter ins Estnische und Lettische, vermutlich um 1900 ins Finnische. Auf Englisch gibt es mehrere Versionen mit bis zu sieben Strophen. In die USA brachten es im 19. Jahrhundert deutsche Auswanderer mit. L'albero di Natale, die italienische Version aus den 1970er Jahren, weicht stark vom deutschen Originaltext ab, dort wird ein geschmĂŒckter Weihnachtsbaum besungen. In vielen LĂ€ndern der Erde wird in der Weihnachtszeit der Tannenbaum besungen, selbst als Calypso oder in Bollywood-Manier. Die vielleicht exotischste Version kommt aus Japan: ăăżăźæš (phonetisch: Momi no ki).
Staatshymne, Arbeiterlied, Fangesang
Wie im Ursprungsland von âO Tannenbaumâ entstanden vor allem im englischsprachigen Raum vielfĂ€ltige Adaptionen. Das Gedicht "Maryland, My Maryland", verfasst 1861 wĂ€hrend des amerikanischen BĂŒrgerkriegs, erschien kurz darauf in einer Vertonung des deutschstĂ€mmigen Charles W. A. Ellerbrock als klavierbegleitetes Lied. Von 1939 bis 2021 war es der offizielle "State Song" des US-Bundesstaates Maryland, "Florida, My Florida" hatte 1913-1935 dieselbe Funktion. Ebenfalls aus der BĂŒrgerkriegszeit stammen die Worte der Hymne des US-Bundesstaats Iowa. In London schrieb 1889 Jim Connell das Arbeiterlied "The Red Flag", das im 20. Jahrhundert mit der Tannenbaum-Melodie zu einer der bekanntesten Hymnen der internationalen Arbeiterbewegung wurde. Es erklingt bei den Parteitagen der britischen wie der irischen Labour Party. Die Fans des FC Chelsea besingen zur selben Melodie die blaue Flagge ihres Vereins. Schwedische Kinder loben damit den Chauffeur ihres Schulbusses, auĂerdem gibt es auch eine Trinklied-Version. Was wĂŒrden wohl Herr Zarnack und Herr AnschĂŒtz dazu sagen?
Manche und mancher mag sich jetzt fragen, warum ich diesmal so ein âabgelatschtesâ Lied empfehle? DafĂŒr gibt es zwei gute GrĂŒnde: Zum einen hat es eine hochinteressante Entstehungs- und Verbreitungsgeschichte. Zum anderen gibt es Textfassungen in vielen Sprachen. "O Tannenbaum" eignet sich also hervorragend zum gemeinsamen Singen mit auslĂ€ndischen Freunden.
November: Und da nehm ich meine BĂŒchse | 10.11.22
Nein, das ist kein JĂ€gerlied, sondern das eines WildschĂŒtzen, der verbotenerweise etwas tat, was seit dem Mittelalter hierzulande ein Vorrecht der Adligen war â zu jagen.
Freie Jagd und Fischerei war 1525 eine Forderung der aufstĂ€ndischen Bauern. Erst 1848 wurde sie erfĂŒllt.
Oktober 2022: Ein Spielmann ist aus Franken kommen
Dieses englische Volkslied mit seiner melancholischen Ohrwurm-Melodie machte in den 80er Jahren die Folkband Landluper aus Plauen/Vogtland in der DDR-Folkszene bekannt, die neben Volksliedern im vogtlĂ€ndischen Dialekt und auf Hochdeutsch auch ein vielfĂ€ltiges internationales Repertoire auf die BĂŒhne brachte.
September 2022: Ein Spielmann ist aus Franken kommen
Das Lied ĂŒbern den Musikanten, der vorm Himmelstor steht und fĂŒrchten muss, in die Hölle zu kommen, gehört zu den eher seltenen Balladen mit Happyend.
August 2022: Frisch auf ins weite Feld
Heute ist ein Wanderlied an der Reihe: âFrisch auf, ins weite Feldâ, Titelsong der ersten AMIGA-Folk-LP von 1980. Die Leipziger Band FolklĂ€nder hat das Lied aus mehreren Fassungen zusammengepuzzelt...
Juli 2022: Studentenlob
2022 hat das Klangrauschtreffen in Hösseringen zum ersten Mal einen Volkslieder-Neufund-Wettbewerb veranstaltet. Dabei ging es darum, noch unbekannte Lieder zu finden und zu arrangieren.
Juni 2022: Es ging ein wacker MĂ€dchen
Im âDeutschen Liederhortâ von 1856 trĂ€gt das Lied die Ăberschrift âWĂ€r ich ein Knab geborenâ. Als musikalische Stellungnahme gegen das patriarchalische Frauenbild wurde es in den 1970ern populĂ€r im
deutsch-deutschen Volkslied-Revival.
Mai 2022: âFrĂŒhlingszeit, machst uns das Herz so weitâ
In der DDR stand das Lied seit den 50er Jahren in den SchulliederbĂŒchern, in Westdeutschland ist es dagegen weitgehend unbekannt. Angeblich kommt es aus Böhmen, doch Genaues weiĂ man nicht.
April 2022: Zogen einst fĂŒnf wilde SchwĂ€ne
Angesichts von Russlands Ăberfall auf die Ukraine empfehlen wir gemeinsam mit der Gruppe Die GrenzgĂ€nger aus Bremen ein Friedenslied. Aufgezeichnet wurde das schlichte, schöne Volkslied am Anfang
des 20. Jahrhunderts in OstpreuĂen.
MĂ€rz 2022: So treiben wir den Winter aus
Keine andere Jahreszeit wird so freudig begrĂŒĂt wie das FrĂŒhjahr. Mit Liedern und BrĂ€uchen. Heute empfehlen wir ein Lied aus dem 16. Jahrhundert, das verbunden ist mit dem Brauch des Winteraustreibens
oder Todaustragens.
Februar 2022: "Der Mond ist aufgegangenâ
Das Abendlied von Matthias Claudius, verfasst im Jahr 1799 nach dem Vorbild von Paul Gerhardts âNun
ruhen alle WĂ€lderâ, ist das meistgedruckte deutsche Gedicht.
Januar 2022: Es saà ein klein wild Vögelein
Die Wurzeln dieses siebenbĂŒrgischen Volksliedes reichen zurĂŒck bis ins 16. Jahrhundert. Die Jugendbewegung machte es um 1900 populĂ€r.